Know-how aktive Kante
In diesem Kapitel geht es um den Unterschied, ob wir mit einem Floß oder mit einem modernen Wildwasser-Kajak den Fluss runterfahren: wenn wir im Bewusstsein fahren, unser Boot dafür zu nutzen, mit der Kraft des Wassers – statt dagegen zu fahren – verlagern wir aktiv unser Gewicht und fahren mit einer aktiven Kante.
Um zu verstehen, wann und wozu wir unser Kajak mit einer aktiven Kante fahren, hilft es zu verstehen, was eine aktive Kante ist, dann befassen wir uns mit der Physik von fließendem Wasser (Hydrodynamik) und wir schauen uns das Bootsdesign, also die Form des Kajaks (des Unterschiffs) näher an.
Was ist eine aktive Kante?
Von einer aktiven Kante sprechen wir, wenn das Boot nicht flach auf dem Wasser aufliegt, sondern auf einer Seite stärker belastet wird als auf der anderen. Wir belasten also einen Sitzhöcker, während wir den anderen entlasten. Dabei gehen wir mit dem Oberschenkel der entlasteten Seite auf Spannung, indem wir das Knie etwas zu uns ziehen. Das Boot rotiert dadurch leicht um seine Längsachse und liegt jetzt „schräg“ im Wasser. Eigentlich passiert genau das, was wir als Anfänger intuitiv immer vermeiden wollen…
Unterschiedliche Bootsdesigns
Ältere Wildwasser Boot-Designs haben ein tendenziell rundes Unterschiff mit eher wenig ausgeprägten Kanten. So ein Boot wird auch Verdränger-Rumpf genannt, weil es sein eigenes Gewicht als Wasservolumen verdrängt und dadurch aufschwimmt.
Modernere Designs schwimmen aus demselben Grund (Verdrängung), ihre Form ist aber im mittleren Bereich unter dem Sitz sehr flach und sie haben nach außen hin ausgeprägte Kanten. Das hat zur Folge, dass man damit unter bestimmten Umständen besser „surfen“ kann. Hier spricht man von einem „Gleit-Rumpf“.
Beim Gleiten wird durch die Geschwindigkeit des Wassers, das auf die Fläche trifft, ein dynamischer Auftrieb erzeugt. Das ist so ähnlich, wie wenn du bei einer Autofahrt das Fenster heruntermachst und deine Handfläche in unterschiedlichen Winkeln zum Fahrtwind stellst. Einmal wird deine Hand nach unten – und einmal nach oben gedrückt werden. Beim Gleiten im Wasser entsteht zwischen Wasser und Boot zudem ein kleiner Luftfilm aus Bläschen, die für noch weniger Reibung sorgen – das nennt sich „surfen“.
Natürlich kann man auch mit einem runden Rumpf surfen, aber es geht besser mit einem flachen. Beim Wildwasserfahren kommt das Surfen hauptsächlich mit Blickrichtung flussaufwärts in stehenden Wellen vor, aber die Rumpfform hat noch andere Eigenschaften und Auswirkungen.
Es gibt natürlich noch andere Merkmale des Bootsdesigns, wie z. B. der Kielsprung/Rocker. Wir konzentrieren uns hier ausschließlich auf die Rumpfform, im Sinne der Form des Querschnitts und die Ausprägung von Kanten. Dabei soll nicht gesagt werden, dass „mehr Kanten“ immer besser sei, vielmehr wollen wir uns anschauen, wie sich unterschiedliche Bootsformen beim Fahren verhalten.
Eigenschaften von einem runden Rumpf
Ein runder Rumpf weist häufig weniger Anfangsstabilität auf und hat dafür mehr Endstabilität. Er reagiert weniger empfindlich auf seitliche Strömungen, weil das Wasser auf der Seite weniger Angriffsfläche hat und das Kajak gewinnt an Stabilität, sobald die Bootsgeschwindigkeit zunimmt. Wenn also eine anspruchsvollere Stromschnelle kommt, kann es helfen, das Boot geradeaus zu halten und zu beschleunigen. Durch die Bootsgeschwindigkeit nimmt der Einfluss von Querströmungen nochmals ab und meistens kommt man mit dieser Strategie gut durch kritische Stellen.
Eigenschaften von einem flacheren Rumpf mit mehr Kante
Ein eher kantiger Rumpf weist eher mehr Anfangsstabilität auf, weil das Unterschiff flach auf dem Wasser aufliegt, hat dafür aber weniger Endstabilität. Kanten bieten mehr Angriffsfläche für Seitenströmungen, führen aber auch dazu, dass man das Boot, eine gute Fahrtechnik vorausgesetzt, sehr präzise fahren kann. Ein moderner Rumpf mit flachem Boden und leichten Kanten versucht, beide Vorteile zu vereinen, indem man, wenn man das Boot flach hält, einen Gleit-Rumpf hat und – wenn man das Boot aufkantet – eine gute Führung ins Boot bekommt. Während ein Gleit-Rumpf beim normalen Fahren eher langsam ist, lässt sich das Boot auf einer leichten Kante auch spontan in seiner Richtung stabilisieren und beschleunigen, während ein runder Rumpf nur durch mehr Geschwindigkeit stabiler wird.
Zusammengefasst könnte man sagen, dass ein flacher Rumpf mit ausgeprägteren Kanten eine etwas aktivere und präzisere Fahrweise verlangt, dafür aber mehr technische Feinheiten zulässt. Natürlich kantet man auch ein Boot mit einem runderen Rumpf auf, aber der Effekt einer Kante fehlt weitgehend.
In diesem Kapitel soll es in erster Linie darum gehen, zu vermitteln, was eine Fahrweise mit aktiver Kante im Wildwasser bringt. Und dafür schauen wir uns im Folgenden die Strömungslehre an.
Das Wasser nutzen
Stellen wir uns einmal die Strömung abstrakt und in der Analogie als Berghang vor, so können wir unterschiedliche Steilheit unterscheiden: wo mehr Strömung ist, würde der Hang steiler sein, wo das Wasser weniger schnell fließt, wäre er flacher. Entsprechend würden wir im Boot mit dem Aufkanten arbeiten: soll der Bootsrumpf immer flach zur jeweiligen Steilheit austariert werden, würde er bei mehr Strömung stärker aufgekantet werden als bei weniger Wasserdruck.
Analogien zum Ski
In diesem Punkt hinkt das Bild vielleicht, wenn wir es mit einem Ski vergleichen (oder auch nicht, warten wir’s ab). Zunächst denken wir vielleicht, je steiler der Hang, umso mehr wäre der Ski zum Berg hin aufgekantet – in Richtung zum Hang. Das ist aber nur solange der Fall, solange wir den Hang queren. Wenn wir uns auf einen Schwung vorbereiten, also aktiv fahren, müssten wir auch den Ski wieder flach zur Oberfläche ausrichten, denn sonst würde er nicht gleiten und nicht drehen können. Tatsächlich wird beim Carving und beim Einleiten des Schwungs das Gewicht sogar leicht ins Tal verlagert und die talseitige Kante bekommt etwas mehr Druck, der Ski wird flächig zum Hang und drehfreudig und das ist genau das, was im Wildwasser-Kajak passiert:
Wir belasten tendenziell die Kante flussabwärts mehr als die Kante flussaufwärts, damit unser Boot an Stabilität gewinnt (und tendenziell auch drehfreudiger wird als ein horizontal ausgerichtetes Boot).
Zurück zum Ski: belasten wir dort die falsche Kante, haben wir „verkantet“ und schießen nur noch gerade aus. Das Gleiche passiert im Kajak: verkanten wir, bekommen wir die gesamte Kraft der Seitenströmung zu spüren und werden nur noch flussabwärts gedrückt, können kaum noch steuern oder kentern sofort.
Belasten wir dagegen die strömungsabwärts-gerichtete Kante tendenziell stärker, bleibt unser Boot sowohl richtungsstabil als auch drehfreudig (je nach Dosierung). Diese Gewichtsverlagerung wird natürlich ständig neu justiert und beim Einfahren ins Kehrwasser kehrt sich auch die Strömung um, weshalb wir dort ebenfalls umkanten.
Mit der Hüfte arbeiten vs. das Gewicht verlagern
Wir können auf zwei unterschiedliche Arten unser Kajak auf die Kante bringen:
1) wir verlagern unser gesamtes Gewicht auf eine Seite.
2) wir lassen unseren Oberkörper zentral im Boot und kippen unsere Hüfte ab (Hüftknick).
Beides funktioniert, aber im Wildwasser wirst du mehrheitlich mit dem Hüftknick besser bedient sein. Das Aufkanten dient dazu, dein Boot zu steuern, indem du es dorthin aufkantest, wo du es drehfreudig halten möchtest.
Je aktiver & agiler du kanten kannst, desto weniger musst du mit dem Paddel „arbeiten“, bzw. umso einfacher und effektiver bringen dich deine Paddelschläge dorthin, wo du sein willst. „Lerne das Wasser für dich arbeiten zu lassen. Nutze die Hydrodynamik für dich und vermeide, dass sie dich dominiert“, so Martin Lang, Weltmeister im Kanu-Slalom.
Bewegliche & stabilisierende Hüfte
Kannst du dein Kajak in jeder Lage mit der Hüfte aufkanten und die Kante und Körperspannung (oft mit einer leichten Vorlage) halten, kommst du einfacher über Strömungen hinweg. Es ist gut, in der Hüfte beweglich zu sein, im Wildwasser zu fahren, verlangt aber auch, dass wir unsere Kante stabilisieren können und nicht wie ein Wackelpudding im Boot herumrutschen, das Boot also unkontrolliert von der Strömung herumgedrückt wird. Dafür muss das Boot gut „gefittet“ sein, d. h. Prallplatte, Schenkelstützen und Sitz müssen einen guten Kontakt zwischen Paddler und Boot herstellen.
Eine stabilisierte Hüfte zu fahren kann auch bedeuten, etwas Druck auf die Prallplatte auszuüben, mehr Kontakt von den Oberschenkeln zum Boot zu bekommen und (vor allem) den unteren Torsos anzuspannen. Die Beweglichkeit der Hüfte zur Seite bleibt dabei erhalten. Das macht es möglich, auch über Verschneidungszonen zu gleiten, ohne zu stark abgebremst und seitlich abgetrieben zu werden. Dadurch, dass das Boot mehr Geschwindigkeit behält, lassen sich auch seitliche Strömungen leichter ausgleichen und es eröffnet neue und ungeahnte Linien zu fahren.
More Edge = more fun!
Methodik & Übungen
- Eine andere Art, um die aktive Kante zu erklären: „zeige der Strömung immer deinen Hintern“

Auf der flussabwärts-Kante, um vor dem Prallpolster Speed aufbauen zu können und leichter über die Verschneidung ins Kehrwasser zu gleiten, Soca im Oktober 2023 (Foto: Lorenz Eberle).
Noch ein paar hilfreiche Begriffsklärungen,
freundlicherweise ergänzt von Martin Lang (erlebnispunkte.de):
Was versteht man unter Hydrodynamik?
„Hydrodynamik, Fluiddynamik, allgemein die Dynamik der deformierbaren Medien, sofern deren Widerstand gegen Formänderung im Gleichgewicht verschwindet. Wichtige Teilgebiete der Hydrodynamik sind die Umströmung von Körpern mit der Grenzschichttheorie (Grenzschicht) sowie Wellen und Wirbel.“
Wie entsteht hydrodynamischer Druck?
„Der hydrodynamische Druck ist abhängig von der Strömungsgeschwindigkeit und der Dichte des Fluids sowie der Form des Strömungskörpers.“ Hierbei ist es unerheblich, ob das Wasser diese Geschwindigkeit mitbringt, oder das Boot mit Geschwindigkeit durch das Wasser bewegt wird.